Eine Jugendliche von hinten in gelber Regenjacke mit hochgekrempelten Hosen schaut auf Meer und  Wolken.

juna #4.21 Muße

Wenn Wollen, Tun und Sein eins werden: Wie schafft man es, Muße zu empfinden? Was ist hinderlich? Interview mit Prof. Dr. Stefan Schmidt

Wir haben dazu den Experten Prof. Dr. Stefan Schmidt befragt.

Text: Dominik Petzold

Herr Professor Schmidt, was ist eigentlich Muße?

Eine Erfahrung, bei der man ganz in der Gegenwart ist. Das Wollen und das Sein müssen zusammenfallen. Wenn Sie Muße empfinden, liegt ihre Aufmerksamkeit auf der Gegenwart, sind Sie zufrieden mit dem, was sie tun. Die zeitliche Dimension, die in unserer Kultur omnipräsent ist, tritt in den Hintergrund. Was Sie machen, machen Sie nicht aus funktionalen Gründen. Sie verfolgen also nicht ein zukünftiges Ziel und holen dadurch eine Differenz in die Gegenwart, wodurch ein Spannungsmoment entstehen würde. Sondern Sie sind eins mit sich in Ihrem Tun.

Ist das nur in der Freizeit möglich?

Mehr Muße haben Menschen in ihrer Freizeit, aber man kann auch bei der Arbeit Muße empfinden, wenn man ganz darin aufgeht. So ist es möglich, etwa beim Schreiben in eine Zeitvergessenheit zu geraten, sodass Wollen und Tun eins sind. Vor allem aber hat Muße einen übergreifenden Charakter: Sie ist jenseits von Arbeit und Erholung möglich, geht darüber hinaus. Laut Aristoteles hat man sogar erst, wenn Arbeit und Erholung abgeschlossen sind, einen freien Geist und kann sich der Bildung zuwenden – genau da kommt die Muße ins Spiel.

Meist sind wir von Muße allerdings weit entfernt. Was steht ihr entgegen?

Diametral entgegen steht, wenn man etwas „verzweckt“, wenn man im Um-zu-Modus ist, also zum Beispiel eine To-do-Liste erstellt und abarbeitet. Dann besteht immer eine zeitliche Spannung zu dem Ziel, das man noch nicht erreicht hat. Das versetzt einen in Unruhe, in Eile, in eine Differenz. So ist es unmöglich, in der Gegenwart anzukommen, zu verweilen und zu genießen. Deshalb tritt die Muße oftmals sonntags auf, wenn wir uns gerade nichts vorgenommen haben.

War es für die Menschen früher leichter, Muße zu finden?

Ja. In unserer heutigen Kultur hat sich das Ausmaß der Funktionalisierung stark erhöht. Früher gab es abends kein Licht, da konnte man nicht viel tun. Im Winter gab es keine Feldarbeit, da konnte man ebenfalls nicht viel tun. Oder um zeitlich näher an die Gegenwart zu rücken: Wenn man unterwegs war, konnte man im Zug nicht arbeiten, keine E-Mails beantworten, weil es kein Internet gab. Stattdessen las man ein Buch. Diese Momente, in denen früher die Möglichkeit bestand, ins gegenwärtige Spüren zu kommen, sind sehr viel weniger geworden. Denn heute funktionalisieren wir viele Momente der natürlichen Unterbrechung, zum Beispiel, wenn wir auf den Bus warten – vor allem durch das mobile Internet werden sie umgewidmet. „Das Handy ist die Zigarette des 21. Jahrhunderts“ heißt ein passender Sinnspruch. In unserer Kultur mit der knappen Ressource Zeit verzwecken wir jeden einzelnen Moment. Das ist ein Grund für Stress und Burnout. Außerdem findet heute alles in einem sozial beschleunigten Kontext statt – damit verbunden ist eine höhere Taktzahl.

Das angesprochene Smartphone spielt gerade bei Jugendlichen eine große Rolle. Sollte die Schlussfolgerung sein, dass wir uns selbst und auch den Jugendlichen jeden Tag ein paar Stunden Handyverbot erteilen sollten?

Da muss man differenzieren: Das Smartphone lässt sich auch als Taschenrechner oder Lexikon verwenden, daran ist nichts verkehrt. Aber es wird eben oft in Momenten genutzt, in denen man einen inneren Freiraum hätte. Stattdessen spielt man, liest Nachrichten, checkt E-Mails. Man ist immer auf der Suche nach kurzfristigen Kicks, das führt zu geistiger Zerstreuung. Von diesem Teil der Smartphone-Nutzung sollte man wegkommen. Aber es ist schwer zu unterscheiden: Wann wird das Smartphone noch sinnvoll genutzt – und wann zur Zerstreuung? Für diese Unterscheidung habe ich kein gutes Rezept. In jedem Fall sind festgelegte Auszeiten vom Smartphone sinnvoll – auch bei Jugendlichen. Zum Beispiel, indem festgelegt wird, bei den Mahlzeiten nicht auf das Handy zu schauen oder es nach 21:00 Uhr beiseitezulegen.

Sie haben mehrfach von Funktionalisierung gesprochen: Erfüllt denn auch Muße einen Zweck, etwa für die Gesundheit oder ein erfülltes Leben?

Muße ist Selbstzweck. Sobald Sie sie verzwecken, verlieren Sie sie. Und Muße ist unverfügbar, man kann sie nicht ein- und ausschalten. Man kann Situationen schaffen, die Muße wahrscheinlicher machen, aber auch wenn die äußeren Bedingungen stimmen, muss sie sich nicht einstellen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Wenn man sich vornimmt, den ganzen Tag nichts zu erledigen und nur im Wald spazieren zu gehen, so erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für Muße eher, als wenn Sie eine To-do-Liste mit 20 Punkten abarbeiten wollen. Aber: Bei dem Waldspaziergang denken Sie vielleicht an die 20 Punkte, die Sie heute eben nicht erledigen. Dann sieht der Wald ganz anders aus.

Gleichwohl ist das Erleben von Muße sicher wichtig für die seelische Gesundheit, oder?

Sehr wichtig. Gegenwärtiges Erfahren und Spüren ist wichtig für die Stressbewältigung und bringt Wohlbefinden mit sich. Aber man darf sich eben nicht unter Druck setzen, Muße zu erleben, um seelisch gesund zu sein.

Kann man die Fähigkeit zur Muße längerfristig fördern?

Sie fragen schon wieder, was man tun kann, um etwas zu erreichen – und die Lösung ist gerade, aus diesem Um-zu-Muster auszusteigen. Es ist besser, einfach spazieren zu gehen, als sich dabei zu fragen, ob das den Blutdruck senkt. Es geht darum zu genießen, gegenwärtig und sinnlich zu sein – und das nicht zu verzwecken. Damit sind wir beim Thema Achtsamkeit: Eigentlich geht es dabei ja um ein Aussteigen – aber viele funktionalisieren die Achtsamkeit zur Leistungssteigerung. Und dann ist es eben wieder etwas anderes.

Um Schlüsse für die Jugendarbeit zu ziehen: Sollte man den Jugendlichen also möglichst keine Vorgaben machen, um Momente der Muße zu schaffen?

Es kommt natürlich immer auf den Kontext an. Aber grundsätzlich stimmt das: Gut wäre es, Räume zu schaffen und zu schauen, was sich entwickelt, Erfahrungen und Erleben zuzulassen, ohne eine normative Orientierung vorzugeben. Was auch immer dann passiert, ist richtig.

Und wenn Kinder und Jugendliche nur herumhängen? Erwachsene haben dann oft den Impuls, sie zu animieren. Sollten wir mehr Leerlauf und Langeweile als Voraussetzung von Muße zulassen?

Ja, ich habe das Gefühl, dass wir unser funktionalisiertes Erwachsenenerleben auf die Kinder und Jugendlichen projizieren. Wer das Chillen gut kultivieren kann, lernt dadurch, in der Gegenwart zu sein. Aber es kann auch ein Vermeidungsverhalten sein, wenn man eigentlich etwas anderes tun sollte.

Muss man die Fähigkeit zur Muße als Kind und Jugendlicher erlernen? Ist es danach zu spät?

Die Gegenwarts- und Präsenzorientierung bringen Kinder von selbst mit. Sie verlieren sich oft im gegenwärtigen Spiel. Aus Erwachsenensicht könnte man das als Muße bezeichnen. Kinder befinden sich vermutlich weit häufiger in einem Mußezustand als Erwachsene: zeitvergessen, gegenwartsorientiert, ohne etwas erreichen zu wollen. Muße ist etwas, das schon da ist und durch die Funktionalisierung verlernt wird. Die Schule vernichtet Muße, weil sie die Kindheit für Leistung funktionalisiert. Ich hatte in meiner Kindheit viel mehr frei verfügbare Zeit als meine Kinder. Heute wird Kindheit und Jugend für Bildungserfolg funktionalisiert.

Die Schule ist also kein Ort, an dem auch mal Muße möglich ist?

Schüler:innen kennen das, aber nur sehr  unzureichend  –  und sie empfinden es nicht als zur Schule gehörig. Schule ist ganz klar mit Leistung und der Erfüllung von Aufgaben verbunden. Schüler:innen sind da immer im Differenzerleben, sie empfinden viel Druck. Sie müssen früh das ABC lernen, müssen Ziele erfüllen, um einen guten Schulabschluss zu machen und der Gesellschaft als Leistungsträger zur Verfügung zu stehen. Muße ist das Gegenkonzept.

Autor

Prof. Dr. Stefan Schmidt hat eine Stiftungsprofessur für Systemische Familientherapie an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg, ist stellvertretender Institutsleiter des Systemischen Instituts (SI) für Aus- und Weiterbildung an der Uniklinik Freiburg und Leiter des Instituts für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene.

Karin Fleissner
Referentin Öffentlichkeitsarbeit für Projekte