Die BJR-Vollversammlung wendet sich insbesondere an die bayerischen EU-Abgeordneten, aber auch an Politiker:innen auf Landes-, Bundes- und EU-Ebene, um folgende Forderung in die Reform eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) einzubringen.
„Jedes Kind in Europa und weltweit sollte dieselben Rechte genießen und frei von Diskriminierung, Repressalien oder Einschüchterung jeder Art leben können. […] Der Schutz und die Förderung der Rechte des Kindes [sind] ein Kernziel der Europäischen Union bei ihren Tätigkeiten im Innern wie in ihrem außenpolitischen Handeln.“[1] Diese Worte stehen in der Einleitung der 2021 veröffentlichten EU-Kinderrechtsstrategie, und dieser Grundsatz ist auch zentral für den BJR.
Selbstverständlich gilt er auch für junge Menschen, die in Bayern und Europa Schutz suchen vor Krieg, Verfolgung, Gewalt und Armut in ihren Herkunftsländern. Rund ein Drittel der Geflüchteten, die in der EU ankommen, sind Kinder und Jugendliche. Ihre Situation ist ganz besonders vulnerabel; es sollte daher oberstes Gebot sein, ihnen ein unbeschwertes Ankommen in einem sicheren Umfeld zu ermöglichen. Dennoch kommt es immer wieder zu Kinderrechtsverletzungen und Kindeswohlgefährdungen im Umgang mit geflüchteten Minderjährigen in der EU und an ihren Außengrenzen.[2]
Die derzeit diskutierten Maßnahmen zur Reform des europäischen Asylsystems versprechen hier kaum Besserungen, viele Punkte lassen sogar eine deutliche Verschlechterung hinsichtlich der Einhaltung von Kinderrechten befürchten. Zudem ist die Umsetzbarkeit der geplanten Maßnahmen unklar, da die vorgesehenen Kapazitäten bei der aktuellen Zahl an Asylantragsteller:innen bei weitem nicht ausreichen.
Die Vollversammlung des BJR wendet sich daher insbesondere an die bayerischen EU-Abgeordneten, aber auch an Politiker:innen auf Landes-, Bundes- und EU-Ebene, um folgende Positionen in die kommenden Trilog-Verhandlungen einzubringen:
1. Kinderrechte müssen gemäß des selbst verschriebenen Grundsatzes der EU auch für ankommende junge Geflüchtete an oberster Stelle stehen.
2. Mit der Einführung einer sogenannten „Fiktion der Nicht-Einreise“ für die Dauer von Verfahren an den Außengrenzen entzieht sich die EU ihrer Verantwortung, EU-Standards zum Schutz von Minderjährigen auch auf ankommende junge Geflüchtete anzuwenden. Zudem werden Menschen in zumindest haftähnliche Zustände gedrängt, da sie an der Weiterreise gehindert werden und in der Regel auch nicht in ihr Herkunfts- oder ein Transitland zurückkehren können. Freiheitsentzug kann schwerwiegende Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von Kindern haben und verletzt in dieser Form zudem das Recht auf Schutz vor Freiheitsentzug, das in Artikel 37 der UN-Kinderrechtskonvention festgehalten ist.
3. Der Reformvorschlag sieht vor, dass der Asylantrag bestimmter Personengruppen in beschleunigten Grenzverfahren bearbeitet wird. Ein solches Grenzverfahren ist für alle Schutzsuchenden mindestens fragwürdig hinsichtlich verfahrenstechnischer Standards und der Unterbringung in haftähnlichen Bedingungen für bis zu acht Monate. Für heranwachsende Kinder und Jugendliche ist es jedoch fatal. Der Blick auf bereits existierende Lager an EU-Außengrenzen, z.B. auf Lesbos oder den Kanarischen Inseln, zeigt, dass Transitzentren kein angemessener Ort für den längerfristigen Aufenthalt von Kindern sind. Zudem ist fraglich, ob in beschleunigten Verfahren ausreichend psychosoziale Betreuung geboten, ein unabhängiger Rechtsschutz gewährleistet und eine sichere und kindesfreundliche Umgebung geschaffen werden kann. Beides ist jedoch nötig, um insbesondere kindspezifische Fluchtgründe vortragen zu können. Der bisherige Vorschlag des Rats, lediglich unbegleitete Minderjährige aus den Grenzverfahren auszuschließen, ist für diese zwar eine Erleichterung; dass nicht grundsätzlich alle Kinder und Jugendlichen ausgeschlossen werden, schafft aber einen gefährlichen Anreiz, Minderjährige zunächst allein auf die Flucht zu schicken. Auch die Position des EU-Parlaments, unbegleitete Minderjährige und Familien mit Kindern unter 12 Jahren aus den Grenzverfahren auszuschließen, geht in dieser Hinsicht nicht weit genug.
4. Mit der geplanten Reform sollen weitaus mehr Länder zu sogenannten „sicheren Drittstaaten“ erklärt werden. Geflüchtete Menschen sollen von der EU erleichtert in entsprechende Länder überstellt werden können, um dort gegebenenfalls Schutz zu erhalten.
Zahlreiche Erfahrungsberichte aus der Türkei, von Griechenland als „sicherer Drittstaat“ deklariert, zeigen, dass geflüchteten Kindern und Jugendlichen dort fundamentale Rechte wie das Recht auf Bildung, Gesundheit, soziale Sicherheit oder Nicht-Diskriminierung verwehrt bleiben. Insbesondere der Vorschlag des Rats lässt befürchten, dass etliche weitere Länder als „sicher“ erklärt werden, ohne dass dort ein wirksamer Schutz entsprechend der Genfer Flüchtlingskonvention und eine Einhaltung aller Kinder- und Menschenrechte gewährleistet wäre. Ebenso besteht die Gefahr völkerrechtswidriger Kettenabschiebungen in noch weitaus unsicherere Herkunftsländer. Kinder und Jugendliche in entsprechende Länder abzuschieben würde daher bedeuten, sie aktiv möglichen Kindesrechtsverletzungen auszusetzen. Eine konsequente Überprüfung der Einhaltung von Kinderrechten und gegebenenfalls Sanktionierung von Nicht-Einhaltung ist nur innerhalb der EU möglich.
5. Wenn fliehende Menschen an Grenzen festgehalten werden und von Staaten für ihre Politik instrumentalisiert werden, ist die EU besonders gefordert, sich für die Einhaltung der Menschenrechte dieser Personen einzusetzen. Stattdessen soll mit der Krisen- und Instrumentalisierungsverordnung ein Instrument eingeführt werden, das die Rechte von Geflüchteten in entsprechenden Situationen stark einschränkt, Kinderrechte missachtet und das Menschenrecht auf Asyl weitgehend außer Kraft setzt. Wir stellen uns gegen die Verordnung, denn europäisches Recht, Menschen- und Kinderrechte dürfen in Krisensituationen nicht ausgehebelt werden. Stattdessen fordern wir Solidarität in Krisenzeiten:
6. Eine Flucht bedeutet für Kinder und Jugendliche, aus ihrem gewohnten Umfeld herausgerissen zu werden, Bildungswege zu unterbrechen, Freund:innen und Familie zurückzulassen. Umso wichtiger ist es, dass sie schnell einen Ort finden, an dem sie dauerhaft bleiben, ein neues Leben aufbauen und Sicherheit finden können. Für unbegleitete Minderjährige gilt daher bislang, dass ihr Asylantrag in dem EU-Mitgliedsstaat bearbeitet wird, in dem sie sich aufhalten, und sie nicht wie Volljährige in das Land überstellt werden, in das sie zuerst eingereist sind (sog. Dublin-Regelung). Diese Regelung möchte der Rat nun ändern, auch Minderjährige sollen überstellt und somit erneut ihrem vertraut gewordenen Umfeld entzogen werden dürfen.
7. Die überwiegend positiv verlaufende Aufnahme von etwa sechs Millionen Geflüchteten aus der Ukraine zeigt, dass ein menschenrechtsorientierter Umgang mit Geflüchteten möglich ist und der Schutz von Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, schnell und unbürokratisch sein kann. Es wurde deutlich, dass Menschen legal einreisen können, eine freie Wahl des Wohnorts nicht zu Chaos führt und die EU alle schutzsuchenden Menschen schnell und in kurzer Zeit aufnehmen kann. Die offene Asyl- und Migrationspolitik gegenüber ukrainischen Geflüchteten und unkomplizierte Schaffung von Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten ermöglicht gesellschaftliche Teilhabe und ein friedliches Zusammenleben.
[1] Europäische Union (2021): EU-Kinderrechtsstrategie. Luxemburg: Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union. https://commission.europa.eu/system/files/2021-09/ds0821040den_002.pdf
[2] Siehe z.B. European Union Agency for Fundamental Rights (2023): Asylum and Migration: Progress Achieved and Remaining Challenges. Luxemburg: Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union. http://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/fra-2023-asylum-migration-progress-challenges_en.pdf